Menschen, die heutzutage zum ersten Mal in unsere Kirche kommen, äußern oft den Eindruck: "Was für eine schöne, kleine Kirche!"
Menschen, die vor 600 Jahren zum ersten Mal in die Kirche gekommen sind, fanden sie vermutlich auch schön, aber bestimmt nicht klein.
Offenthal war damals ein sehr kleiner Ort, an dem man eine Kirche in dieser Größe nicht erwartet hätte.
Wie kommt Offenthal zu einer so "großen" Kirche?
Eine Antwort auf diese Frage findet sich, wenn man kurz etwas tiefer in die Geschichte unserer Kirche eintaucht, wozu wir Sie an dieser Stelle herzlich einladen möchten!
Wie ein kleiner Ort zu einer großen Kirche kommt
Obwohl Offenthal als Siedlung bereits in einer Grenzbeschreibung des 9. Jahrhunderts erwähnt wird, kann über die Entwicklung des Ortes und seiner Gebäude bis ins späte Mittelalter hinein nur spekuliert werden. Mauerreste unterhalb des heutigen Chores des Kirchengebäudes verweisen jedenfalls auf eine ältere Bebauung des Areals. Wahrscheinlich befand sich an der Stelle der heutigen Kirche bis zum Ende des 14. Jahrhunderts eine kleine Kapelle.
Kirchenrechtlich und organisatorisch wurde Offenthal erst in der Neuzeit (1729) nachweislich als eigene Pfarrei geführt. Zu vermuten ist daher, dass die Gemeinde im Hoch- und Spätmittelalter als „Filial“ einer eigenständigen Pfarrei betrachtet werden muss, wahrscheinlich jener in Dreieichenhain, was zumindest für die Zeit nach der Reformation belegt ist.
Mit dem Bau des noch heute erhaltenen Kirchengebäudes wurde um das Jahr 1400 begonnen, der Kirchturm als nachrangiger Gebäudeteil wurde um 1490 errichtet. Interessant ist, dass schon wenige Jahrzehnte nach Beginn des Kirchenbaus die Gebäudestruktur erneut verändert wurde, als man eine nach Norden weisende Seitenkapelle anbaute, die 1507 in einer Quelle erstmalig erwähnt wird.
Auffallend sind die Größe des Kirchengebäudes und sein Wehrcharakter im Verhältnis zur doch eher geringen Zahl von Einwohnern Offenthals bis ins 19. Jahrhundert und des Status der Gemeinde als „Filial“. Nimmt man hinzu, dass zum Gebäude selbst noch eine Wehrmauer gehörte, die die heute an der Kirche gelegenen Straßen deutlich verengte und den Wehrcharakter des Gesamtgebäudes noch einmal hervorhob, stellt sich die Frage nach den Gründen dieses für Offenthal überdimensionierten Baues.
Wahrscheinlich lassen sich die Gründe in den Zwecken finden, die das Gebäudeensemble erfüllen sollte:
Zunächst einmal war das Kirchengebäude ein liturgischer Raum, der der Bevölkerung Offenthals zugleich als Integrations- und Kommunikationsraum diente. Weithin sicht- und durch das Geläut hörbar repräsentierte das Kirchengebäude die Siedlung. Wurden die Zeitläufte unruhig, drohte gar Gewalt von außen, so übernahm das Gebäude für die Bevölkerung Offenthals zusätzlich eine Schutz- bzw. Fluchtfunktion: Im Inneren der Kirche bzw. des Areals war man sicherer vor heranrückender Soldateska oder marodierenden Haufen.
Dieses Nutzenbündel allein kann jedoch nicht die Größe der Kirche erklären. Es ist schwer vorstellbar, dass die Bevölkerung Offenthals selbst die Dimensionen ihrer Dorfkirche derart gewaltig angelegt hat.
Dies lässt vermuten, dass die Kirche gestiftet wurde und ihre Dimension der Bedeutung der Stifterpersönlichkeit gerecht werden sollte. Betrachtet als Tat christlicher Nächstenliebe, sollte eine Stiftung dieser Art dem Stifter oder der Stifterin nach ihrem Tod im „ewigen Leben“ bei Gott zugutekommen. Obwohl es keine Belege gibt, spricht sehr viel für die Plausibilität der mündlichen Überlieferung, nach der Anna von Falkenstein (gestorben 1419) die Kirche gestiftet haben soll. Stiftungen Annas von Falkenstein sind in Dreieichenhain belegt (u.a. ein Hospital). Da Offenthal in ihrer Zeit wohl als „Filial“ der Pfarrei Dreieichenhain betrachtet werden muss, erscheint ein Engagement ihrerseits in Offenthal nicht unwahrscheinlich. Bekannt ist überdies durch eine jüngere Quelle, dass Fenster der Kirche einst von Wappen geschmückt waren, wahrscheinlich Symbole der über Offenthal herrschenden Adelsfamilien. So ist es ebenfalls nicht unwahrscheinlich, dass die Wappenfenster auf die Familie Annas von Falkenstein verwiesen. Ob sie allerdings – wie viele andere Stifterpersönlichkeiten – die gestiftete Kirche als Grablege auserkoren hatte, lässt sich nicht sagen.
Die Kirchenstiftung könnte auch aus einem anderen Grund erfolgt sein: Aus einer Quelle, die sich sicher in die Zeitspanne 1461-1511 datieren lässt, geht hervor, dass man nach Offenthal zu einem heiligen Marienbild wallfahrte. Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine kleine Marienstatue, wie eine spätere Quelle andeutet. Gewährsmann für die Wallfahrt ist darüber hinaus der Reformator Erasmus Alberus, der sich in einer Fabel über die letzten Wallfahrer lustig machte und das Marienbild als Götzen verunglimpfte. Nun brachte eine Wallfahrt sicher einigen Wohlstand nach und ein gewisses Prestige für Offenthal und musste andererseits aber auch in gewisser Weise symbolisch repräsentiert sein, etwa im Rahmen einer großen Kirche mit Wehrcharakter.
Wie weit in der Geschichte Offenthals die Wallfahrt zurückreicht, ob sie vielleicht schon in Zeiten der alten Kapelle praktiziert oder erst von der Stifterpersönlichkeit des „neuen“ Kirchengebäudes initiiert wurde, lässt sich nicht entscheiden. Viel spricht allerdings dafür, dass Offenthal als religiöser Ort bereits vor dem Bau des Kirchengebäudes eine gewisse Bedeutung hatte, vielleicht eben durch die Wallfahrt, und diese Bedeutung das Engagement der Stifterpersönlichkeit hervorrief.
Da Offenthal 1540 evangelisch wurde, verringerte sich die regionale Bedeutung Offenthals als religiöser Ort schlagartig. Das Gebäudeensemble, das vor allem aus der katholischen Praxis der Stiftung und der Wallfahrt erklärt werden kann, verlor mithin seine maßgebliche Funktion, blieb dem Ort aber glücklicherweise bis heute in seiner Dimension erhalten.
Andreas Kurbel
(Mitglied im Vorstand des
„Freundeskreis zur Erhaltung der Evangelischen Kirche Offenthal e.V.“)